Rede von Dr. Giorgia Sogos zum Gedenken an die Pogromnacht

Veröffentlicht am 14.11.2014 in Unterbezirk

Gedenkveranstaltung zum 9. November

Rede von Dr. Giorgia Sogos zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 und zum Gedenken an die Verschleppung und Ermordung von 474 Bonner Bürgerinnen und Bürger in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, gehalten am 9. November 2014 vor dem Endenicher Benediktinerinnenkloster zu Bonn. 

"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Genossinnen und Genossen, 

 

auch dieses Jahr gedenken wir mit tiefer Anteilnahme und bewegtem Mitgefühl einer der tragischsten Episode der deutschen Geschichte unter dem Nazionalsozialismus, die unseren Stadtteil Endenich betroffen hat. Nach der Vertreibung der Nonnen des Benediktinerinnenordens "Maria Hilf" 1941 von den Nazis, wurde bald das ehemalige Benediktinerinnenkloster vom heiligsten Sakrament „Zur ewigen Anbetung“ zum Sammellager. Hinter diesen Mauern in den Jahren 1941 und 1942 wurden 474 Bonner Bürgerinnen und Bürger jüdischer Herkunft interniert und für die Zwangsarbeit bestimmt. Von da unternahmen sie einen Weg ohne absehbare Wiederkehr: die Verschleppung und die Deportierung ins Vernichtungslager Auschwitz. Anhand der Bezeugungen gelang es nur sieben von ihnen zu überleben. Unter denen befanden sich auch Kinder wie zum Beispiel der funfzehnjährige Ruth Daniel und der vierzehnjährige Egon Bucki, die in einem Wald bei Minsk ermordet wurden. Diejenigen, die der Ermordung entkamen, entschieden sich jedoch selbst für den freien Tod. Das war der Fall von dem jüdischen Bonner Mathematikprofessor Felix Hausdorff, der sich am 26. Januar 1942 zusammen mit seiner Ehefrau Charlotte und seiner Schwägerin Edith Pappenheim das Leben nahm.

 

Das antidemokratische Klima sowie die Intoleranz gegen die Juden sowie gegen die ethnischen und religiösen Sprachminderheiten im Dienst einer Ideologie, die die Überlegenheit einer vermutlich „besseren Rasse“ vorsah, zwang zahlreiche Deutsche zur Flucht. Auf diese Art konnten viele schon ab 1933 und danach in verschiedenen Einwanderungswellen den Gewalten der Nazis entkommen, deren Höhepunkt nur im Jahr 1938 erreicht wurde. Während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November dieses Jahres wurden verschiedene Arten von Gewaltmaßnahmen gegen die Juden organisiert, die ihre massive Verfolgung vorbereiteten. Synagogen, Geschäfte, jüdische Friedhöfe und Wohnungen wurden von den Nazis zerstört.

 

Das Exil stellte somit für viele die Gelegenheit dar, ihren antifaschistischen Kampf weiter zu führen. Dazu gehörten die Vertreter der SOPADE, die ehemailge Bezeichnung der heutigen SPD, die die Demokratie aus Ferne verteidigten. Ebenso boten die deutschen Schriftsteller durch ihre Werke eine Waffe gegen das Dritte Reich. Anderseits bedeutete das Exil für viele aber keine richtige Rettung. Das stellte vielmehr ein doppeltes Leiden dar. Als Wissenschaftlerin der deutschsprachigen Exilliteratur kann ich nicht an die wichtigsten Vertreter der deutsch- jüdischen intelligentia denken, wie zum Beispiel an Sigmund Freud und an seine Eimsakeit im Londoner Exil sowie an die Schriftsteller wie Paul Zech, Joseph Roth, Ernst Toller und Klaus Mann, deren Exilerfahrungen emblematisch waren. Zum qualvollen Verlust ihrer eigenen Heimat und ihrer kulturellen Identität kam die traumatische Erfahrung des „Fremden“ hinzu. Armut, Verzweiflung, Wurzellosigkeit, Einsamkeit Isolierung, Sehnsucht nach der Vergangenheit und infolgedessen Unfähigkeit, die sprachlich-kulturellen Grenzen zu überwinden, trieben viele Exilanten sogar zum Selbstmord. Als einzigen Ausweg wurde der Tod auch für die Flüchtlinge angesehen, die mit gefälschten Papieren die Grenzen überschritten auf der Suche nach der Rettung in einem anderen Land. Es ist der Fall Walter Benjamins, der 1940 aus Angst der Verhaftung durch die Gestapo das Leben nahm.

 

Zwei Jahre später kam der heimatlose jüdische Schriftsteller Stefan Zweig zum ähnlichen Schluss. In seinem Abschiedsbrief schrieb er am 22. Februar aus dem fernem Brasilien: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus“. Auf eine ähnliche Art deutete der Bonner Mathematikprofessor Hausdorff auf jene Hoffnung hin, die paradoxerweise nicht für sich selbst gesehen hat, als er in seinem Abschiedsbrief am 26. Januar 1942 formulierte: „Auch Endenich ist noch vielleicht das Ende nich“.

 

„Die Geschichte, dieser scheinbar gezeitenlose Ozean der Geschehnisse, gehorcht in Wahrheit einem unabänderlichen rhythmischen Gesetz, einem inneren Wellengang, der ihre Epochen abteilt in Ebbe und Flut, in Vorwärtsstromen und Rücklauf“ so lauten Stefan Zweigs Worten. Die Geschichte wiederholt sich auf eine ebenso grauenhafte Weise. Viele Menschen überwiegend aus Syrien und Irak sowie aus den anderen arabischen Staaten fliehen heutzutage aus ihren Ländern, die von Bürger-und Religionskriegen betroffen sind, unter der permanenten Bedrohung einer terroristischen Extremistenbewegung. Angesichts ihrer Heimat, mit der sie sich oft nicht mehr identifizieren können, erreichen viele Flüchtlinge Europa auf der verzweifelten Suche nach Rettung und Asyl.

 

Wir, Europäer, sind Söhne einer Geschichte, unserer Geschichte, die an Licht und Schatten reich ist. Sowohl die Zeugen einer Geschichte, die von Ungerechtigkeiten, Kriegen, Verfolgungen und Ermordungen geprägt ist, als auch wir, die Nachfolger dieses schmerzvollen Erbes, sollten die Vergangenheit nicht vergessen. Wir sollten vielmehr von den menschlichen Irrtümern lernen, um solche nicht wieder zu begehen. Nicht das trennende, sondern das verbindende Element, nicht die nationalistische, sondern die übernationale Tendenz sollten wir von unseren römischen Vorfahren als Vorbild nehmen, Begründern jenes größten Imperiums, das die vielen unterschiedlichen Völker der damaligen Welt umfasste und das unter dem Prinzip einer Universalität stand. Mit dem Blick auf dieses universelle und gemeinsame kulturelle Erbe sollten wir die Mauer der Gleichgültigkeit und der Intoleranz niederwerfen und die Grundlage der Demokratie wiederaufbauen, im Namen einer Gesellschaft, die nicht mehr diskriminiert, sondern die die Solidarietät und die Integration anderer Kulturen fördert.

 

Lassen Sie uns der Opfer der Nazizeit gedenken, die jede Art von Diskriminierung und Gewalt erlitten. Lassen Sie uns der 474 jüdischen Bonner Mitbürgerinnen und Mitbürger gedenken, die hinter diesen Mauern interniert wurden. Ich bitte Sie für alle eine Schweigeminute einzulegen.

 

 

Danke"

 

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